Angst und Feldenkrais

Angst, keiner will sie, alle haben sie, zumindest ab und an. Hoffentlich! Denn ohne Angst lebst Du nicht lang.

Ein grausames Experiment in den späten 1960er Jahren hat das gezeigt: Ein Forscher fing wilde Affen und unterzog sie einer Hirnoperation. Er entfernte ihnen die Amygdala. Sie ist wichtig für emotionale Regulation und sie signalisiert Angst. Sie initiiert Flucht oder Kampf. Nachdem die Wunden geheilt waren, wurden die Affen wieder in der Wildnis ausgesetzt. Alle starben innerhalb kurzer Zeit. Sie konnten Gefahren nicht mehr als solche erkennen, sie hatten ihre Angst verloren. Sie ertranken, wurden Opfer von Raubtieren oder rivalisierenden Artgenossen.[1]

Und es gibt auch Menschen, die aufgrund einer seltenen Erbkrankheit unter der Zerstörung ihrer Amygdala leiden. Ein hervorstechendes Symptom ist: Sie empfinden keine Angst. Und sie gelangen dadurch in allerlei höchst gefährliche und problematische Situationen.[2] Die Personen scheinen eben keine Angst zu haben, keine Amygdala, keine Angst!

In einem Experiment ließ man solch eine Person eine Mischung aus 35% Kohlendioxyd und Raumluft einatmen. In aller Regel empfindet eine Person dann Atemnot, auch wenn die Mischung eine Gesundheitsgefährdung ausschließt. Man erwartete auch hier, dass die Person, in Ermangelung einer funktionierenden Amygdala keine Angstreaktionen zeigte. Entgegen dieser ursprünglichen Erwartung zeigte die Person allerdings hierbei heftigste Angstreaktionen! [3]

Keine Amygdala = keine Angst? So einfach ist die Gleichung also nicht. Eine psycho-physische Einheit, im Sinne von: hier ist das Gefühl, dort ein Organ als physisches Gegenstück, wäre schön einfach, ist aber so nicht zu haben. Dennoch sollte es uns aufmerken machen, wie verlockend solche einfachen Entsprechungen für unseren Alltagsverstand sind. Er liebt „Aha-Erlebnisse“ und gibt sie nicht so gerne her. Er wurde ja in einer Zeit geformt, als das Überleben der Maßstab für „richtig“ oder „falsch“ war. Und womit du einmal überlebt hast, wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit das nächste Mal auch wieder überleben. So mag er Garant von Sinnhaftigkeit bei Überlebensfragen sein, allerdings nur indem er Wahrscheinlichkeiten verrechnet. Ein Garant für Wahrheiten ist er nicht.[4] Denn „dummerweise“ (bezogen auf solcherart „Schnapperatismus“) leben wir in einer Welt, in der es nicht nur ums reine Überleben geht. Und die Puffer der Zivilisation sind stärker geworden.

Es gibt auch woanders eine ähnlich verlockende Suggestion: Physiologische Prozesse werden mit Köperhaltung und emotionalen Vorgängen in Deckung gebracht. Vergleichbar der oben geschilderten psycho-physischen Parallele von Organ und Gefühl. Nur wird hier dem Gefühl ein Haltungsmuster als physische Entsprechung gegenübergestellt.

Feldenkrais und Angst

Wir finden dies bei M. Feldenkrais bereits als Kapitelüberschrift: „Das Körperschema der Angst“[5]. Und weiter unten dort: „Betrachtet man irgendeinen Instinkt, so wird man eine bemerkenswerte Entdeckung machen: dass unter allen Instinkten nur einer Bewegung hemmt, nämlich die Furcht. Wenn ein Tier erschrickt, erstarrt es, oder es rennt davon. In einem wie im anderen Fall hält es zunächst kurz inne. Dieses Innehalten wird erzeugt von der ersten Reaktion auf den Reiz, der die Furcht ausgelöst hat: einer heftigen Kontraktion sämtlicher Beuger, vor allem im Unterleib, einem Anhalten des Atems, worauf bald eine ganze Reihe vasomotorischer Störungen folgt, z.B. beschleunigter Puls, auch Harnlassen oder sogar Stuhlentleerung.“[6]

Feldenkrais fasst es so zusammen: „Die angeborene Furcht ist die Furcht vor dem Fallen.“ Dieses Grundschema wird dann vermittels bedingter Reflexe auf nicht ererbte Auslöser übertragen, zunächst auf laute Geräusche, dann auf allesmögliche Andere.[7] Dass Verhalten durch sukzessives Konditionieren aus zunächst nicht-bedingten Reflexen[8] entsteht, wird man heutzutage allerdings weder in der Verhaltensforschung noch in der Psychologie so schreiben wollen. Auch ist der Instinktbegriff, den Feldenkrais auf William McDougall (1871-1938) zurückführend verwendet, eigentlich auch schon 1987 nicht mehr „state oft he art“.[9]

Diese Merkwürdigkeit klärt sich, bemerkt man folgendes: „Das Körperschema der Angst“ (in „Die Entdeckung des Selbstverständlichen“) und „Das Verhaltensmuster der Angst“ (in „Body and Mature Behavior“)[10] sind fast inhaltsgleich.[11] Letzteres Werk ist eine in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Vortragssammlung. Sie wurde Jahre 1949 veröffentlicht.[12]

Aber zunächst muss festgehalten werden: die zitierten Bücher sind keine wissenschaftlichen Werke im engeren Sinne. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zielt demnach ins Leere und wäre unseriös. Auch kann der Autor, weil verstorben, sich ja nicht mehr verteidigen. Kritik muss daher sorgsam erfolgen, sie sollte konstruktiv und in dem Sinne wertschätzend sein, als der Autor damals in der Darstellung seiner Methode Neuland betrat.

Das Gebrüll der Tiere

Feldenkrais wollte seine Konzeption durch ein Beispiel anschaulich zu machen. Das ist leider misslungen: dass Tiere brüllen um die Jagdbeute durch den ausgelösten Schreckreflex besser zu fangen, kann man getrost ins Reich der Legenden verweisen.[13] Der dann beim Opfer illustrierte Reflex erinnert eher an den „Moro-Reflex“, allerdings ist dort die Reihenfolge der Reaktionen umgekehrt zu Feldenkrais´ Schilderungen.[14]

Nun, als Feldenkrais´ Text erstmals entstand (1943/44), war der Zugang zu Filmaufnahmen jagender Großkatzen, die hier augenscheinlich gemeint sind, eher selten, wenn es so etwas überhaupt gab. Technische Möglichkeiten (Drohnen, Robotertechnik, hochauflösende Zeitlupe, riesige Teleobjektive) machen es einem heutzutage natürlich leicht, solche Aussagen in Zweifel zu ziehen. Man könnte darüber kommentarlos hinweggehen, wenn nicht ausgerechnet dieses eher anekdotische Wissen zitiert und auch noch, wie bei Nelson e.a.[15] (in dem ansonsten lesenswerten Buch „Feldenkrais für Sänger), ausgeschmückt wird. Ebenso habe ich selbst besagtes Beispiel in Aus- und auch Fortbildungen der Feldenkraismethode gehört. Ich finde das sehr schade, unsere Methode hat m.E. erstaunliches Potenzial, aber wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir ausgerechnet das anführen, was unzeitgemäß und auch unlogisch ist.

Zeitgemäße Theorie

Natürlich kann niemand, der Feldenkrais unterrichtet, immer auf dem Stand neuester Forschung in all den Themengebieten sein, die unsere Methode so berührt. Aber dennoch ist es mir ein Anliegen, mich als Feldenkraislehrer zu bemühen, der Feldenkraispraxis eine zumindest nicht unzeitgemäße theoretische Konzeption gegenüberzustellen. Theorie und Praxis sind für mich die zwei Hälften einer Medaille, die ich Erkenntnis nennen möchte. In diesem Sinne ist, wie anderen Ortes bereits ausgeführt,[16] zeitgemäße Theorie eine Notwendigkeit. Nicht weil ich so gern theoretisiere, sondern weil eine nicht-stimmige theoretische Konzeption mich zu nicht-sinnvollem Handeln verleiten könnte. So würde man Menschen mit bestimmten Ängsten oder gar Angstkrankheiten eher nichts Gutes tun, wenn man versuchte diese durch Falltraining zu vermindern oder gar zu beseitigen. Es ist („leider“, sagt der Alltagsverstand) komplexer.

Selbstverständlich muss aber auch konstatiert werden, dass sich Feldenkrais´ Aussagen zur Angst nicht auf diese beiden Kapitel reduzieren lassen.

Bewältigungsstrategien und Feldenkrais

Die feldenkraisische Perspektive bewusster Körperwahrnehmung ist ausgesprochen hilfreich. Einerseits gibt es stressreduzierende und damit auch angstreduzierende Handlungsoptionen (wie z.B. Bauchatmung, Sicherung des Gleichgewichts etc.), die sich in der Feldenkraismethode finden. Andererseits stellt das Erkennen und ggfs. sogar Benennen körperlicher Reaktionen, die mit Angst in Verbindung stehen, ein „Frühwarnsystem“ und damit einen Zeitgewinn für Handlungen dar.

Und generell sieht Feldenkrais ja die Möglichkeit vor, körperliche Haltung und Bewegungsorganisation der bewussten „Selbst-Leitung“ oder „Selbst-Lenkung“[17] zugänglich zu machen. So scheinen dann auch die Emotionen und korrelierende viszerale Prozesse eigener Kontrolle zumindest zugänglich, wenn nicht sogar ihr zumindest teilweise unterwerfbar. Dieser Zugang zu sich selbst (oder zu anderen) über Bewegung und Haltungsvariation ist pragmatisch und kann zu sinnvoller Sensibilisierung im Umgang mit sich und anderen führen. Ich denke, hier ist die Chance, auch das Wahrnehmen der eigenen Angst sinnvoll einzuordnen. Das ist wichtig! Denn Angst ist, wie oben gezeigt wurde, mitunter so sinnvoll wie überlebensnotwendig. So betont auch der US-Sicherheitsfachmann Gavin de Becker die wertvolle Rolle der Angst. Er nennt sie unter anderem „Bote der Intuition“ und verweist in Zusammenhang mit Gewaltprävention immer wieder darauf, wie überlebenswichtig es sein kann, Signale der Angst als solche zu erkennen.[18]

Der Doppelcharakter von Angst, oder wie sinnvoll ist es, sie zu vermeiden?

Angst vermag allerdings auch sinnvolles Handeln zu hemmen, sie ist als schlechter Ratgeber sprichwörtlich und sie ist so unangenehm, dass man Angst vor ihr hat…

„Angst ist ganz schlimm. Angst darfst Du nicht haben!“ Das sagte mir einer, der mir nahesteht. Er meinte das auch wirklich so. Intonation, Mimik und Körpersprache unterstrichen das. Und er bemerkte gar nicht, dass er die Angst vor der Angst schilderte, bemerkte nicht, was er damit spontan von sich hier offenbarte. Und ich verstand ihn, kenne ihn ja schon lange.

Angst fühlt sich doch so unangenehm an: Pulsbeschleunigung, Druck in den Eingeweiden, Beschleunigung der Atmung… Das hatte schon Darwin so beobachtet (in: „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren“).[19] Allerdings ist die „Furcht-Haltung“, die Feldenkrais bei Darwin geschildert meint, keineswegs eine eindeutige Kontraktion sämtlicher Beuger[20], Darwin erwähnt ein ganzes Spektrum an Reaktionen und Bewegungen, die bei Furcht beobachtbar sind.[21]

Und dennoch, das Prinzip der Einheit von Physiologie und Verhalten, das hier nicht nur von Darwin sondern auch von Feldenkrais vertreten wird, ist, so schreibt Hüther, heute fester Bestandteil moderner Stresstheorien.[22] Nur scheinen die Entsprechungen von Physis und Psyche nicht ganz so einfach zu sein.

Wie auch immer: Wer hat schon gerne Angst? Angst möglichst zu vermeiden, scheint für den Alltagsverstand eine klare Sache zu sein. Aber die Angst zu vermeiden, kann dem Ignorieren von Gefahr gefährlich nahe kommen. Und das ist etwas anderes als das Vermeiden von Gefahren!

Ist Angst gut?

Die physischen und psychischen Reaktionen der Angst wahrzunehmen ist gut, so widersinnig das auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Denn die Angst hilft: „Wenn wir unseren Blick öffnen, werden wir feststellen, dass Angst oft entsteht, weil etwas für uns Wichtiges gefährdet ist und geschützt werden muss. Wenn man weiß, wie, dann kann Angst als positive Kraft für Veränderung genutzt werden.“ Dieses treffende Zitat stammt von der Psychotherapeutin Alicia Clark.[23] Natürlich geht es bei dieser Sichtweise nicht um Angsterkrankungen. Aber es schafft eine deutlich offensivere Perspektive für die ganz normale Angst im Alltag, die man ja häufig gar nicht so genau wahrnimmt oder von der man meint, sie überwinden oder vermeiden zu müssen.

Allein die Angst als solche zu benennen, kann ihre Intensität regulieren.[24] Und folgerichtig muss ich dazu in der Lage sein, Angstsymptome also auch physiologische Reaktionen wahrzunehmen.

Das Reduzieren der Angst auf einen „Instinkt, der Bewegung hemmt,“[25] erscheint von hier aus betrachtet als ein wenig verengt. Noch einmal Clark: „Letztendlich besteht die Aufgabe der Angst darin, einen so lange zu plagen, bis man in Aktion tritt.“[26] Ist Angst also ein Köperschema, dem wir ausgeliefert sind? So gesehen augenscheinlich nicht!

Ich glaube, das wird klarer, wenn Angst und Reaktionen darauf in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht werden. Es handelt sich dabei um einen Erkenntnis–Handlungszusammenhang (hier der Einfachheit halber „Handlungsablauf“ genannt). Damit das nicht zu abgehoben wird, schildere ich dazu drei Beispiele. In diesen gibt es je nach Situation 4, 5 oder 6 „Stationen“. Dass die Feldenkraismethode als Bewältigungsstrategie hilfreich ist, ergibt sich ja zunächst aus einer bewussteren Selbstwahrnehmung. Wie sie das tut und warum das funktioniert, kann vielleicht verständlicher werden, wenn man diese Stationen betrachtet. Insgesamt bin ich überzeugt, dass das Potenzial der Feldenkraismethode umso deutlicher erkannt werden kann, je klarer man sie in übergeordnete Zusammenhänge (wie diese Handlungsabläufe) einordnet.

Drei beispielhafte Handlungsabläufe

Wenn wir zunächst einen sehr einfachen Handlungsablauf betrachten, so können wir folgende Elemente postulieren: